sizilianische Dichterschule und Dolce stil nuovo

sizilianische Dichterschule und Dolce stil nuovo
sizilianische Dichterschule und Dolce stil nuovo
 
Die ersten schriftlich überlieferten lyrischen Dichtungen aus Italien stammen entweder von herumreisenden Troubadours oder sind von Italienern in provenzalischer Sprache verfasst. Ein geistlicher Sänger nutzte als erster die Muttersprache: Franz von Assisi für seinen um 1225 geschriebenen Sonnengesang.Die Vorherrschaft des Provenzalischen bereitete die thematisch von der provenzalischen Liebeslyrik beeinflusste sizilianische Dichterschule am Hof Kaiser Friedrichs II. vor. An seinem Hof auf Sizilien versammelte der Kaiser Beamte, Juristen und Notare, zu deren Universitätsausbildung die intensive Beschäftigung mit rhetorisch-stilistischen Problemen gehörte. Sie regte er dazu an, sich mit der Lyrik der Provenzalen zu beschäftigen, die ihnen aus in Italien verfertigten Sammelhandschriften bekannt gewesen sein dürfte. Anders jedoch als in Oberitalien verwendeten sie sogleich, das heißt etwa ab 1230, ihre Muttersprache und verfassten künstlerisch so vollendete Sprachgebilde, dass man auch hier nicht nur im Sinne einer gelehrten Tradition an die Schulung durch südfranzösische Texte denken muss, sondern durchaus auch an die durch ältere volkstümliche Lieder und Gedichte, die allerdings nicht erhalten sind. Weniger wahrscheinlich ist der Einfluss der gleichzeitig auf Sizilien immer noch gepflegten arabischen Kunstdichtung, die völlig andere Themen als die neue Lyrik behandelte. In deren Zentrum stand der vergeistigte Lobpreis der Frau. Damit folgten die Sizilianer ganz eng den Provenzalen, wie auch viele von ihnen verwendete provenzalische Begriffe zeigen, die sie von den Troubadours übernommen haben.
 
Der große Künstler unter den Sizilianern ist der Notar Giacomo da Lentini. Etwa 40 Texte sind von ihm erhalten, in denen er zum Beispiel das Äußere der Geliebten preist, die Leidenschaften schildert, die sie in ihm erweckt oder über die Entstehung der Liebe in den naturphilosophischen Kategorien seiner Zeit nachdachte. Giacomo da Lentini gilt auch als Erfinder des Sonettes. In der Strenge seiner Struktur von zwei Vierzeilern und zwei Dreizeilern lassen sich in These, Gegenthese und Synthese die erhabensten Leidenschaften mit der Kraft des Verstandes gestalten oder sublime liebestheoretische Diskussionen führen.
 
Während Friedrich II. selbst nur als mittelmäßiger Dichter hervorgetreten ist, zeigen die erhaltenen Gedichte seiner Söhne Enzio und Manfred, dass sie offenbar die poetische Begabung ihres Großvaters, Heinrichs VI., geerbt haben. Durch Enzio, der 1249 von den Bolognesern gefangen genommen wurde, durch toskanische Dichter, die sich am kaiserlichen Hof aufhielten, und durch die Kopisten, die durch ihre Abschriften für die Verbreitung der sizilianischen Texte sorgten, dürfte diese Hoflyrik in Oberitalien bekannt geworden sein. Zwischen 1260 und 1280 fanden sich in Pisa, Florenz, Bologna, Arezzo und Lucca Autoren, die einerseits den provenzalischen und sizilianischen Modellen ziemlich genau folgten, sich andererseits aber auch zögernd von den übermächtigen Vorbildern lösten. Aus der aristokratischen Poesie, die um Friedrich II.entstanden war, wurde nun eine städtisch geprägte Dichtung, die die zentrale Reflexion über die Liebe mit Inhalten erweiterte, die von der eigenen politischen und moralischen Erfahrung gespeist waren. Dabei gewann auch die Liebe einen veränderten Umriss. In intensiver psychologischer und spiritueller Verdichtung führte sie nun nicht mehr zu einer ständisch gebundenen ethischen Vollkommenheit, sondern wurde, republikanisch gestimmt, zum Fundament menschlichen Tugenderwerbs schlechthin.
 
Einer überragte diese Dichtergruppe bei weitem: Der Jurist Guido Guinizzelli aus Bologna. Er gestaltete in seiner Poesie überkommene Bilder in einer glühenden, inspirierten Sprache. Er schöpfte neue Bilder wie das von der engelsgleichen Frau, deren Gruß allein unsägliche Süße und Heilung gewährt. Die Tiefe seiner Dichtung und ihr veränderter Klang bedeuteten Anverwandlung und Umformung der steril gewordenen Gedichte aus der Provence und zugleich die Verfeinerung der Vorgaben der sizilianischen Schule, um zu jener geistigen und gefühlsmäßigen Ausdruckskraft zu gelangen, die sich im »Dolce stil nuovo«, dem süßen neuen Stil, artikulierte. Guinizzellischrieb mit seiner Kanzone über die Liebe, die immer wieder an ihren naturgegebenen Ort, das edle Herz, zurückkehrt, das Manifest dieser lyrischen Bewegung. Die Liebe und das edle Herz, sagt er, gehören so eng zusammen wie Sonne und Licht oder Flamme und Hitze. Durch das Erwecken der Liebesempfindung handelt und wirkt die Geliebte wie Gott, diese Liebe widerspricht niemals göttlichen Geboten, da sie zu höchster geistiger und sittlicher Vollendung führt.
 
Eine Gruppe junger Dichter in Florenz, unter ihnen der junge Dante, sein »erster« Freund Guido Cavalcanti und Cino da Pistoia, sahen in Guinizzelli ihr neues Vorbild, fanden sich als »Getreue Amors« zusammen und entwickelten eine philosophisch begründete Theologie der Liebe. Die von Dantestammende Bezeichnung »Dolce stil nuovo« gewinnt daher eine überaus reiche Bedeutungsvielfalt. Zum einen verweist sie auf den dichtungstheoretischen Aspekt des melodiösen Sprechens in einer weichen, mittleren Stillage, die das Erhabene oder Pompöse ebenso meidet wie das Niedere oder Derbe, zum anderen jedoch auch auf die süße Entrückung der Mystiker, auf den Neubeginn des natürlichen Lebens im Frühling und des geistigen Lebens mit Ostern, mit der Auferstehung Christi. Die für eine kleine intellektuelle Elite geschriebene Lyrik, bei aller Neuerung auch Abbild einer großartigen Kontinuität von der Provence über Sizilien bis in die Toskana, entwirft ritualisierte Formen einer unwirklichen Idealität, Seelenlandschaften des Adels der Gesinnung, in denen jenseits des Sichtbaren unfassbare Möglichkeiten individueller Vervollkommnung angedeutet werden.
 
In einem seiner schönsten Sonette beschreibt Dante außerhalb aller fixierbaren Orte den Vorgang der Veredlung des Herzen, den die erleben, die seine ideale Geliebte, Beatrice, die »Glückselige«, grüßend vorübergehen sehen. Sie werden stumm, wagen nicht, sie anzuschauen. In ihrer demutsvollen Haltung scheint Beatrice einem himmlischen Wunder gleich, das auf Erden sichtbar wurde. Ihre überirdische Lieblichkeit dringt durch die Augen unmittelbar ins Herz, ein Hauch von Liebe entweicht ihren Lippen, der eine tiefe Sehnsucht nach Einswerdung des Einzelnen mit dem in ihr gespiegelten göttlichen Ganzen auslöst. Mit seinen Klängen stilnovistischer Innerlichkeit liefert dieses Gedicht eine exakte Beschreibung der Liebe und ihrer Wirkungen nach den zeitgenössischen naturphilosophischen Vorstellungen und ist zugleich Wortmusik in hoher Vollendung. Die Kraft, auch stärkste Empfindungen mit den Möglichkeiten des Verstandes dem Ziel hoher Vollendung zuzuordnen, zeigt Dante in einzigartiger Weise in dem Weltgedicht seiner »Göttlichen Komödie«.
 
Prof. Dr. Wolf-Dieter Lange
 
 
Hardt, Manfred: Geschichte der italienischen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Düsseldorf u. a. 1996.
 
Italienische Literaturgeschichte, herausgegeben von Volker Kapp. Stuttgart u. a. 21994.

Universal-Lexikon. 2012.

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